Oder: Die Nacht, in der alles gleichzeitig zusammenbrach und unsere Technikgläubigkeit erschüttert wurde
Aufgezeichnet von Ira Schneider, Betroffene
Aus gegebenen Anlass berichte ich in diesem Monats-Beitrag bewusst über ein aktuelles Erlebnis. Viele haben in den Medien die Flutwasser-Katastrophe verfolgt, die Mitte Juli 2021 Teile von NRW und Rheinland-Pfalz in einen Ausnahmezustand versetzt hat. Das „Jahrhundert-Ereignis“ hat viele Menschen in der Region hart getroffen und die Bevölkerung tief erschüttert. Vor allem das Ahrtal und Teile der Eifel sind durch das Hochwasser-Unglück in einem Zerstörungszustand versetzt, den es seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr gegeben hat. Was in der Nacht zum 15. Juli vielerorts passierte, entzieht sich der menschlichen Vorstellungskraft. Auch in Flamersheim an der Steinbachtalsperre, wo ich lebe und mit meinem Redaktionsbüro mit Fotoküche arbeite, hat der Kreis Euskirchen noch in der Nacht den Katastrophenfall ausgerufen und die Menschen evakuiert.
Mittwoch, 14. Juli 2021
9 Uhr: Es hatte die ganze Nacht geregnet. Ich bin froh, dass es am Morgen aufhört und ich trockenen Fußes zu meiner Covid-Impfung gelange. Auf dem Rückweg mache ich noch ein paar Besorgungen für eine Foto-Strecke mit Pilzen.
12 Uhr: Es fängt wieder an wie aus Kübeln zu schütten. Den ganzen Nachmittag ist es dunkel und ich habe nicht so recht Lust mit meinem Shooting anzufangen. Von der Impfung habe ich Arm-, Kopf- und Nackenschmerzen bekommen.
16.30 Uhr: In der Tiefgarage steigt das Wasser, sodass alle ihre Autos rausfahren.
19.30 Uhr: Der Strom fällt aus. Zeitgleich das Internet und das Handy-Netz. Die Nachbarn hier im Mehrfamilienhaus laufen im Treppenhaus zusammen und wir schauen im Keller nach, ob der Ausfall etwas mit der Hauptsicherung zu tun hat. Das Wasser presst sich an einigen Stellen durch Rohrdichtungen in den Keller, ist aber mit dem Unterstellen von Eimern zu regeln, während draußen die Hauseingänge volllaufen und das Wasser von Kirchheim aus kommend circa 30 cm hoch die Straße am Haus vorbeiläuft. Im Nachbarhaus kommen die Bewohner schon gar nicht mehr zur Haustüre rein, ohne durch kniehohes Wasser zu waten. Eine Nachbarin steigt durch das Parterre-Fenster ins Haus ein. Es ist nicht mehr möglich, ohne hohe Gummistiefel nach draußen zu gehen.
20.30 Uhr: In der Nachbarschaft hört man die ersten Flamersheimer ihre Keller auspumpen.
21.30 Uhr: Der Wasserstrom, der die Straße herunter in die Mitte des Ortes läuft, nimmt an Fahrt auf. Die Feuerwehr ist überall im Einsatz. Autos, die vorbeifahren, kommen kaum noch durch das Wasser durch. Die parkenden Autos werden zunehmend mit Wasser umspült. Wir gehen noch einmal in den Keller. Aufatmen. Noch ist alles trocken.
22.30 Uhr: Wir sitzen „bei Kerzenlicht“ und unterhalten uns über den Starkregen-Sommer 2016 – als sich schon einmal hier in der Region übermäßig viel Wasser seinen Weg über die Bäche in die Keller bahnte. Von überall her hört man nun geschäftiges Treiben und Sirenen. Im Unterdorf scheint die Lage schlimmer zu sein als hier bei uns im Wohngebiet Im Reiherflug. Noch immer sind Strom, Internet und Handynetz weg. Tage später erfahren wir, dass der Kreis Euskirchen um 22:41 Uhr auf Facebook eine Mitteilung herausgegeben hat – dass Teile von Flamersheim und Schweinheim in der Nacht evakuiert werden. Es bestehe in Teilen des Kreises akute Lebensgefahr.
23.30 Uhr: Trotz der ganzen Unruhe draußen begeben wir uns zur Ruhe. Denn der Wasserstrom – der eben noch die Straße herunterlief – hat sich beruhigt und ist größtenteils abgeflossen. Im Schlafzimmer hört man immer noch das Abpumpen der Keller. Ich ziehe deshalb ins Wohnzimmer um. Die Kopf- und Gliederschmerzen von der Impfung sind stärker geworden und ich bin froh, als ich endlich liege und einschlafe.
Donnerstag, 15. Juli 2021
3.30 Uhr: Ich wache auf, denn ich habe linksseitig vom Scheitel bis zur Sohle sehr starke Schmerzen und mir ist heiß. Ich bin beunruhigt, da mir auch der Brustkorb weh tut. Ich denke an die Worte meiner Hausärztin, dass es durch die Covid-Impfung mit Biontech in wenigen Fällen zu einer Brustmuskelentzündung gekommen ist und man sich beobachten solle. Ich liege wach und horche in mich rein. Da ich die Rolladen nicht runtergemacht habe, sehe ich durch das Fenster Blaulicht …
3.40 Uhr: Ein Feuerwehr-Bus fährt mit einer Sirene rund und macht eine Durchsage. Ich bin irritiert und neugierig. Durch das gekippte Fenster kann ich die Durchsage nicht richtig verstehen. „Achtung, Achtung – hier spricht die Feuerwehr …“ – und was dann?
3.42 Uhr: Die dritte Durchsage kommt und ich habe die Balkontüre aufgemacht, schneide die Sequenz mit meinem Handy mit: „Achtung, Achtung – hier spricht die Feuerwehr. Es besteht eine akute Gefahrensituation. Bitte räumen Sie Ihre Häuser und finden sich beim Sammelplatz Edeka in Flamersheim ein.“ Mist … was mach ich jetzt? Noch immer ist der Strom weg und greife zu meiner kleinen Laterne mit Batterie-Kerze. Ich irre durch die Wohnung ins Schlafzimmer zum Kleiderschrank, wo ich mir die oberste Jeanshose greife und überstreife. Ich nehme die Schuhe mit Reißverschluss – das geht schneller. Das Schlafanzug-Oberteil bleibt an, nur schnell eine Jacke drüber und die Handtasche und das Handy mit. Das Feuerwehr-Auto ist weg. Aber ich höre keine Nachbarn im Treppenhaus. Auch draußen ist alles still, bis auf die Pumpen. Hat den Spruch etwa niemand gehört außer mir? Mist … ich muss die anderen wecken.
3.47 Uhr: Ich klopfe und bollere wie verrückt an die Türen der Nachbarn. Mir tun schon die Fingerknöchel weh. Es dauert einige Minuten, bis sie in der Etagentüre stehen. Ich berichte von dem Aufruf. Ungläubigkeit. Während sich die Nachbarn hier auf der Etage fertig machen, gehe ich rauf – weitere Nachbarn rausklopfen. Ein Paar hört nichts. Ich mache weiter, bis alle anderen fertig sind. Das Paar ganz oben im Haus bekommen wir definitiv nicht wach. Es muss zurückbleiben. Meine Nachbarin fragt mich, ob sie ihr Portemonnaie mitnehmen soll. Ich nicke.
4.00 Uhr: Wir sind auf dem Weg zum Edeka-Parkplatz. Als wir an einem parkenden Feuerwehrauto vorbeikommen, berichten wir von dem Paar, das noch im Haus ist. Die Feuerwehr sagt: Daran könne man jetzt nichts ändern. Man fahre die ganze Nacht mit der Durchsage rund. Entweder sie hören es oder nicht. Wir fragen uns, was das für eine Gefahrensituation ist, in der wir uns befinden. Hat es etwas mit dem Stromausfall zu tun? Oder sind durch das Unwetter Gasleitungen beschädigt? Oder ist irgendwo ein AKW-Unfall passiert? Daran mag ich jetzt nicht denken, sage ich den Nachbarn. Halt! Wir müssen noch einmal zurück. Mein Nachbar hat seinen Stock vergessen, ohne den mag er nicht weiter gehen. Wir sehen nun nach und nach Leute in Richtung Edeka laufen oder auch mit Autos fahren. Die Feuerwehr hilft gehbehinderten Menschen aus ihren Wohnungen.
4.30 Uhr: Der Edeka-Parkplatz ist voll mit Autos und Leuten. Einige haben sogar Koffer und anderes Gepäck dabei. Ich staune. Ein Feuerwehrmann mit Flüstertüte kommt und berichtet kurz, was los ist. Da die Steinbachtalsperre droht überzulaufen und die Staumauer brechen könnte, wird man uns nun mit Bussen in eine Turnhalle nach Kuchenheim bringen. Ein Raunen geht durch die Menge. Die Busse mit Aufschrift „Sonderfahrt“ fahren zügig vor und wir steigen ein. Mein Nachbar regt sich auf über die Durchsage der Feuerwehr „Räumen Sie die Häuser …“. Er hat vor 80 Jahren bereits nächtliche Evakuierungen und später, als er 13 Jahre alt war, eine Vertreibung mit Zwangsarbeit mitgemacht. Die Kindheit – von der er zwischenzeitlich zu glauben schien, sie sei „nur“ ein Film gewesen, kommt in dieser Nacht in ihm hoch und ist wieder präsent.
4.40 Uhr: Am Halleneingang werden alle mit Namen und Adresse registriert. Man fragt nach der Covid-Impfung. Die Turnhalle ist zunächst in drei Räume aufgeteilt: Vollständig durchgeimpft, nicht vollständig durchgeimpft, Sonderfälle. Leute, die keine Maske dabeihaben, müssen draußen warten, bis Masken kommen. Nach und nach kommen immer mehr Leute aus dem Ort an und haben auch ihre Tiere dabei, Hunde an der Leine, Katzen in Käfigen. Die Hallenaufteilung wird aufgehoben.
5.00 Uhr: Wir haben uns auf die Tribüne der Turnhalle gesetzt und warten auf neue Nachrichten. Noch immer sind Internet und Handyempfang tot. Trotzdem versuche ich immer wieder, Botschaften an die Familie abzusetzen. Zwischendurch lege ich mich immer wieder hin, weil ich Schmerzen habe und nicht mehr sitzen kann. Die Maske auf meinem Gesicht ist warm und ich werde müde, schlafe immer wieder kurz ein trotz des Trubels. Ich mache die Augen auf und sehe eine junge Frau mit einem ein bis zwei Tage alten Säugling, eine ältere Frau mit Rollator, die später erzählen wird, dass sie am Mittag zuvor aus dem Krankenhaus entlassen wurde und eine Wundversorgung braucht, eine Familie mit Kindern, die allesamt noch im Schlafanzug und barfuß sind, immer mehr Leute mit Tieren in Käfigen oder großen Hunden an der Leine.
7.20 Uhr: Statt neuen Informationen kommt eine Gulaschsuppe. Die ganze Situation ist surreal. Die Leute, die morgens Tabletten einnehmen müssen, sind allerdings froh – dass es etwas zu essen gibt. Wie kann die Steinbachtalsperre überlaufen oder auch der Damm brechen? Mein Nachbar erzählt, dass er die Talsperre mit einer Führung besichtigt habe und es Schleusenräder zum gezielten Wasserablassen gebe und auch einen Abfluss. Und er wundert sich. Und er wundert sich auch darüber, dass uns über die Warnapp NINA keine Warnung erreicht hat.
9.00 Uhr: Ein schwarzer Kaffee und ein trockenes Brötchen werden angeboten, auch etwas Obst. Die Hilfskräfte vom Malteser und vom Roten Kreuz können nichts zur aktuellen Lage oder auch zum weiteren Ablauf des Tages sagen. Immerhin hat die Halle in Kuchenheim Strom und ich habe glücklicherweise in letzter Minute noch an mein Handykabel zum Aufladen gedacht. Doch es gibt noch immer kein Internet oder Handynetz. Es ist nicht möglich, tagesaktuelle Termine abzusagen. Auch meine Familie kann ich nicht erreichen.
12.00 Uhr: Ein Bäcker aus dem Ort hat Brötchen und Gebäck gebracht. Die Lieferung war für ein Seniorenheim bestimmt, wird erzählt. Wegen des Unwetters konnte aber nicht ausgeliefert werden.
13.00 Uhr: Wir warten und warten. Stunde um Stunde vergehen in der Abgeschiedenheit der Turnhalle, während sich draußen Schreckliches ereignet hat – von dem wir aber rein gar nichts wissen oder ahnen.
15.00 Uhr: Ein Feuerwehr-Einsatzleiter sagt, dass die Lage sehr ernst sei und noch keine Entwarnung gegeben werden könne. Man bittet uns, in der Halle zu bleiben und auch hier zu übernachten. Wer eine Möglichkeit hat, bei Verwandten unterzukommen, kann die Halle nach Abmelden seiner Person verlassen – sofern die Straßen überhaupt befahrbar sind. Viele Verkehrswege seien überschwemmt, gesperrt oder kaputt. Da keine Kommunikation nach außen möglich ist und Verwandte nicht erreicht werden können, bleiben die allermeisten. Denn hier sind wir sicher, haben Strom und warme Getränke. In den Medien wird an diesem Tag von einem Experten berichtet, der die Talsperre als „sehr instabil“ eingestuft hat. Der Damm weise tiefe Furchen auf und könnte brechen. Der Ablass der Talsperre sei verstopft und das Wasser könnte nicht kontrolliert abgelassen werden. Man pumpe die Talsperre zurzeit mit Kräften von THW und Feuerwehr ab und habe zwischenzeitlich auch Teile von Rheinbach evakuiert. Doch diese Nachrichten gelangen nicht zu uns.
15.30 Uhr: Feldbetten kommen. Das Aufbauen der Gestänge fällt mir leicht dank zahlreicher Camping-Urlaube.
19.00 Uhr: Eine Linsensuppe zum Abendbrot.
22.00 Uhr Die erste Nacht mit circa 140 Personen in der Halle plus Tieren ist okay und erstaunlicherweise angenehmer als ein Dreibett-Zimmer im Krankenhaus, denn die Akustik der Halle eliminiert Schnarch- und andere Geräusche erstaunlich gut. Zum Glück sind meine Impfnachwirkungen besser, trotzdem wache ich immer wieder auf. Habe ich das alles nur geträumt?
Freitag, 16. Juli 2021
5.00 Uhr Ich schaue auf mein Handy, denn die Uhr in der Turnhalle ist nachts aus. Weitere Einsatzkräfte rücken an.
8.00 Uhr Es gibt Frühstück und man hat für uns Zahnbürsten und Handtücher organisiert. Offenbar dauert das Ganze hier nun doch länger als gedacht.
12.00 Uhr: Einige Leute sind gegen Empfehlung und auf eigenes Risiko noch einmal kurz nach Hause, um Tabletten, Kleidung und Auto zu holen oder Tiere zu versorgen. Sie bringen auch Radios mit. Und so erfahren wir, dass das Unwetter gleichzeitig an Ahr, Swist und Erft sowie in der Eifel massiv gewütet hat und hören von zahlreichen Toten und Vermissten. Wie sich nachher herausstellen wird, wussten alle – die TV oder Internet empfangen konnten – selbst im Ausland – mehr über unsere Evakuierungssituation als wir selbst.
Der Freitag plätschert ähnlich wie der Donnerstag dahin. Der Tagesablauf ist lediglich strukturiert durch drei Mahlzeiten, die uns die Einsatzkräfte bringen. Mein Nachbar sagt, wenn er wieder zu Hause ist, gibt es erst einmal keine Eintöpfe mehr bei ihm.
Leute aus Schweinheim, die mit uns in der Halle sind, hat es hart getroffen. Denn der Ort liegt direkt unterhalb der Steinbachtalsperre. Sie berichten von zerstörten Häusern, dramatischen Rettungsaktionen von Dächern in der Evakuierungsnacht und weggespülten Autos. Sie haben nur noch das, was sie am Leib tragen. Und mit 80 Jahren fängt man nicht mehr von vorne an, sagt eine Betroffene trocken. Auch einige Flamersheimer haben nicht nur Wasser im Keller, sondern werden ihre Häuser zunächst nicht bewohnen können – da auch das Erdgeschoss unterspült wurde. Ich wundere mich, wie gefasst diese Menschen sind. Erste Hilfsangebote von den Hallenbewohnern werden an sie herangetragen und man merkt, wie gut es beiden Seiten tut. Covid ist auf einmal kein Thema mehr und die Menschen scheinen trotz oder gerade wegen der fatalen Situation, die über uns schwebt wie ein Damoklesschwert, zusammenzurücken.
Zudem: Es ist für alle ein merkwürdiges Gefühl „über Nacht“ in einem erklärten Krisen- und Unglücksgebiet zu wohnen, wo nun THW, Feuerwehr und Bundeswehr im Einsatz sind, Erste-Reihe-Politiker mit Hubschraubern anreisen – um sich ein Bild von der Lage in der Region zu machen – während sich die Evakuierten selbst keinen Überblick über die Überschwemmung in ihrer Wohnung oder ihrem Geschäft machen können. Und es tut gut, in der Situation nicht alleine zu sein.
Die Hilfskräfte, die in unserer Halle im Einsatz sind, haben nun eine Kleiderkammer eingerichtet. Ich nehme mir auch ein sauberes T-Shirt, denn zwischenzeitlich ist das Wetter – Gott sei dank – umgeschlagen und die Sonne brennt. Mein langärmeliges Schlafanzugoberteil ist definitiv zu warm und an diesem Freitag bekomme ich sogar einen Sonnenbrand. Merkwürdiges Wetter. Der Klimawandel?!
Nicht bestätigte Nachrichtenfetzen über Risse in der Dammkrone und einen vermeintlichen Dammbruch geistern durch die sozialen Medien und sorgen für Verunsicherung, sodass wir fast stündlich die Nachrichten am Radio mit Spannung verfolgen und uns fragen, wann wir denn einmal persönlich informiert werden über die hiesige Lage und unser weiteres Schicksal. Denn heute ist ja bereits Tag drei der Katastrophe! Zum Glück hören wir nachmittags in den Medien von einer leichten Entspannung der Situation.
22.00 Uhr: Die zweite Nacht in der Turnhalle bricht an. Ich liege wach und denke daran, wie es meiner Familie in Wachtberg-Adendorf (nur 15 Kilometer von Altenahr entfernt) und meiner knapp vier Monate alten Nichte wohl geht. Ich konnte nur kurz simsen heute, das Netz war zu schlecht. Was ist mit meinem Zuhause und mit meinem Büro, mit meinen Festplatten und meinem darauf gespeicherten Lebenswerk, meiner Existenz als Journalistin und Fotografin – wenn der Damm der Talsperre bricht und Flamersheim überflutet wird? Und wie mag es nur Freunden, Bekannten und Kunden an der Ahr oder in der Eifel gehen? Ich denke auch daran, dass ich in der Nacht der Evakuierung nur meine Etagentüre zugezogen habe und der Ort nun verlassen ist und zu Plünderungen einladen könnte. Das Kopfkino ist schwer zu bewältigen.
Samstag, 17. Juli 2021
Die Ortschaften sind von der Bundespolizei abgeriegelt. Niemand darf mehr rein.
Zeitweise funktionieren WhatsApp und sms. Man hat den besten Empfang, wenn man vor der Halle eine kleine Anhöhe bis zu einem Acker heraufläuft. Während wir nach und nach von Freunden, Familie und aus dem Radio erfahren, welche Katastrophen sich ereignet haben und nun auch erst erste Bilder der Zerstörung sehen, können wir nur herumsitzen und abwarten.
Der Bürgermeister von Euskirchen, Sacha Reichelt, kommt am Nachmittag vorbei und informiert über die immer noch ernste Lage und die Arbeiten an der Talsperre. Ein verstopfter Ablauf wurde inzwischen erfolgreich freigelegt, wodurch der Dammbruch verhindert werden konnte. Allgemeine Erleichterung und Jubel, aber auch Kopfschütteln und Verwunderung über einen verstopften Abfluss. Ziel müsse es sein, heißt es weiter, die Talsperre um bis zu zwei Drittel ihres Volumens abzulassen. Nur so könne man sicher sein, dass die Lage unkritisch sei und die Bevölkerung zurück in die Orte könne. Der Bürgermeister zeigt die Perspektive auf, dass man – je nach Erfolg – Sonntagnachmittag mehr wisse und wir gegebenenfalls am Sonntagabend oder am Montagmittag nach Hause könnten. Es würde dann ab Montag im Ort ein zentraler Info- und Versorgungspunkt eingerichtet, da es noch sehr lange keinen Strom und somit auch keine Nahversorgung geben würde.
Sacha Reichelt verspricht am folgenden Tag noch einmal wiederzukommen und uns zu informieren, wie die Lage ist, was er auch tut. Es gibt zudem Informationen zur Entsorgung von verdorbenen Lebensmitteln und Fleisch sowie havarierten Möbeln und Haushaltsgeräten.
Sonntag, 18. Juli 2021
Am Sonntagnachmittag erfahren wir, dass der Pegel der Talsperre langsamer als erwartet sinkt und dass sich ein Experten-Team am Montagfrüh die Talsperre noch einmal anschauen wird, um dann nach endgültiger Beurteilung guten Gewissens die Bevölkerung wieder in die Häuser zurückkehren zu lassen.
Wir machen einen Spaziergang durch Kuchenheim und entdecken, dass hier zum Beispiel der Kiosk mit Post in den letzten Tagen geschlossen bleiben musste, weil die Betreiberin ebenfalls von der Evakuierung betroffen ist.
Montag, 19. Juli 2021
Ein Leben ohne Strom und sauberes Wasser?
Schon in der Halle haben wir uns Gedanken gemacht, wie ein Leben ohne aussehen könnte. Zuhause angekommen, war die erste Konfrontation die mit dem eigenen Kühlschrank, der in fünf Tagen ohne Kühlung zu einem echten Ekelprojekt geworden war. Kein warmes Wasser zum Saubermachen, kein heißer Kaffee am Morgen, keine warmen Speisen und keine frischen Lebensmittel mehr. Immerhin gibt es, anders als im Katastrophengebiet an der Ahr, fließendes Wasser, das zum Händewaschen und Duschen genutzt werden kann. Für den Verzehr sollte es abgekocht werden.
Auch bezüglich Strom-Alternativen wird sich künftig jeder Haushalt für Krisenfälle Gedanken machen müssen. Es fängt schon beim Konservenöffner an, der in vielen Haushalten heute nicht mehr von Hand, sondern elektrisch betrieben wird. Und was will man mit einem Trockenvorrat Reis und Nudeln, wenn man ihn nicht zubereiten kann?
Schlussbemerkung: Eines steht nach fünf Tagen Evakuierung ohne Vorankündigung fest: Wir werden künftig an unseren (Früh-)Warn- und Kommunikationssystemen arbeiten müssen. Für alle Fälle. Von einem Einsatzleiter des Roten Kreuzes haben wir erfahren, dass auch die Helfer während ihres Einsatzes große Schwierigkeiten hatten, untereinander zu kommunizieren, da die Netze zusammengebrochen waren.
Verglichen mit anderen Orten haben wir in Flamersheim sehr großes Glück gehabt, wofür wir unendlich dankbar sind. Mein Dank gilt an dieser Stelle im Besonderem dem Roten Kreuz, den Maltesern, dem ASB, den Johannitern, dem THW und den Feuerwehren, der Bundeswehr und den Betreuerinnen und Betreuern des Kreises Euskirchen. Außerdem ein herzliches Dankschön an alle freiwilligen Helferinnen und Helfer, die den Ort innerhalb von kürzester Zeit von havarierten Dingen und Müll befreit haben!
Unterstützung für Betroffene
Außer über die in den Medien bekannten Spendenkonten der Aktionsbündnisse und Hilfsorganisationen können Interessierte auch betroffene Orte direkt mit Geld- oder Sachspenden unterstützen. Auf den Internet- und Facebook-Seiten der Kreise, Städte und Gemeinden findet man hierzu Näheres. In den Facebook-Gruppen der einzelnen Orte kann man außerdem tagesaktuell erfahren, welche weiteren Sofort-Hilfen benötigt werden.